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Dienstag, 16. Oktober 2012

Warten*

Als die Sonne noch schien, hatte ich gerade kein Geld. Ich wollte trotzdem nach Deutschland, irgendwie. Ich stellte mich in Melje an die Autobahn, es war früh morgens, doch im alten Industriegebiet wachte niemand auf, fingen die Maschinen nicht an zu gähnen, rauchten die Schlote nicht ihre ersten Zigaretten. Melje war schon lange tot, seine alten Bewohner lebten wohl noch und erzählten sich wahrscheinlich von guten alten Zeiten, als das Bier nach getaner Arbeit doppelt gut schmeckte.

Ich war lange nicht mehr per Anhalter gefahren. Schengenoptimistisch dachte ich, jemand würde mich bestimmt sofort mitnehmen. Von wegen. Ich stand eine Weile. Nach 15 Minuten dachte ich zum ersten Mal an die Autovermietung und meine Kreditkarte, die der Angestellte mit der grüne Weste in den Computer tippen könnte. Wozu gibt's schließlich Schulden? Doch genau für solche Fälle!

Schließlich überwog doch der Geiz und ich stand weiter. Nochmal 15 Minuten, und noch 15, dann hielt ein Wagen und nahm mich mit Richtung Österreich. Die Weinberge flogen dahin links und rechts und der Ingenieur erzählte mir vom dem guten Trinkwasser in Maribor, trotz der lang anhaltenden Hitze, aber die Drava, die brachte so einiges an Regen mit aus Österreich.

Er setzte mich an einer Tankstelle ab, ich sah einen Hofer, ging hin, kaufte mir ein paar Textmarker. In Neongrün schrieb ich dann, tja, was schrieb ich eigentlich? Ich glaube es war Linz, von dort wollte ich nach Passau und über die A3 nach Frankfurt. Auf der Karte ist das fast eine kerzengerade Strecke.

Fünf Minuten später war ich wieder unterwegs - es ging zackiger, als ich dachte - mit einem Mann aus Oberösterreich, der einfach nur wollte, dass ich zuhörte. Ich tat wie von mir gewünscht, lauschte dem Referat über die Beförderungsbestimmungen von Gefahrentransporten.

Und dann? Dann stand ich. Steckte fest am Voralpenkreuz, um mich herum zerstieben die Wagen in alle Richtungen, die einen fuhren nach Kroatien, die anderen in die Türkei, aber keiner wollte da lang, wo ich langwollte. Immerhin wußte ich jetzt ziemlich Bescheid über die Unterschiede von ungarischen und deutschen Feuerlöschgesetzen.

Ich richtete mich also ein, stand unter der Anzeigentafel der Tankstelle mit meinem Schild. Ich wartete. Ich wartete richtig lange. Wie oft machen wir das noch? Richtig warten. Ohne ein Buch in der Hand und vor allem ohne das obsessive Hervorzücken des Telefons, das moderne Ziehen eines Revolvers, mit dem wir uns gegen die Gefahr des Alleinseins bewaffnen. Die Welt ist voller Gesichter im flackernden Schein von Bildschirmen.

Warten ist sich in Geduld üben. Und tatsächlich, man muss es üben, es ist eine asketische Tätigkeit. Ich hatte vergessen, wie gering meine Toleranz für einfach Rumstehen ist. Sich einfach mit der Zeit, die langsam an einem vorbeifließt, auseinandersetzen.

Die Sonne brezelte mir auf den Schädel, sie stand im Scheitel und hatte den Schatten der Anzeigetafel weggebrannt. In Gedanken ging ich an der Lubljanica spazieren, der Geruch von Ćevapčići und Marijuana hing in der Luft wie ein Seemann im Adlernest. An den drei Brücken wollte ich mich in eine Bar setzen, konnte mich nicht entscheiden, schließlich warf ich eine Münze, die mir aus der Hand in den Fluß fiel, gut dachte ich, gehe ich also ins Maček trinke ein 
 Laško und schaue mir 80er Jahre Musikvideos auf dem TV in der Ecke an.

Ein Wagen hupte an der Tankstelle und riss mich aus meinen Gedanken. “Hey Du Schmarotzer”, rief der Fahrer, “Such dir doch einen Job.” Dann fuhr er mit seinem BMW davon, schade, dachte ich, damit wäre ich schnell unterwegs gewesen.

Jedoch fing es mir gerade an Spaß zu machen, einfach nur rumzustehen und in die Gegend zu glotzen, Dinge wahrzunehmen, für die ich vorher blind war, weil ich mich selten an Orten aufhalte die für die Durchreise gemacht sind. Raststätten zum Beispiel. Das Voralpenkreuz zum Beispiel. Während ich da stehe mit meinem Schild, neon-grün auf Karton - fließen die Menschen wie Fische in zwei sich kreuzenden Strömen durch diesen Ort: Kinder, Jungendliche, Erwachsene, Senioren, Gesunde, Kranke, dünne, sportliche, fette. Mit Schnauzer ohne Schnauzer. In Jogginghosen, in Anzügen. Mit Sonnenbrille und ohne. Slowenen, Deutsche, Kroaten, Türken, Albaner, Bosnier, Ungarn, Engländer, Holländer. BMWs, Audis, Volkswagen, Fiats, Hyundais. Die Menschen essen Schnitzel oder Schokoriegel. Streiten sich, lieben sich, erleichtern sich auf der Toilette, danach kommen sie immer mit einem befriedigten Ausruck aus der Tür, die Blase im Zaum gehalten auf der Autobahn solange es nur irgend ging.

Drei Stunden lang wartete ich und ging gedanklich spazieren. Besuchte die europäische Idee, diese grenzenlose Freiheit, die wir heute als so selbstverständlich hinnehmen, schaute bei Drago
Jančar vorbei und stimmte ihm zu, dass wir offen mit unseren menschlichen, linguistischen, kulturellen und kreativen Differenzen leben sollten. Später klingelte ich auch bei Samuel Beckett, um ihm meine Sicht der Dinge darzulegen, aber der war leider nicht da.

Schließlich hielt ein Auto, es fuhr nach München. Ich wollte gar nicht einsteigen, gar nicht mehr mitschwimmen in diesem Fluß, gar nicht mehr Teil sein dieses Hin und Herströmens zwischen Arbeit und Urlaub, zwischen Scheidungen und Hochzeiten, Krieg und Frieden, Geburtstagen und Beerdigungen.

Dienstag, 4. September 2012

Leseliste August

Wundervoll so viel Zeit zu haben und sich wieder Büchern widmen zu können. Vielen Büchern. Am besten mehrere gleichzeitig und in der Breite lesen.

Folgend, was ich im August verschlungen habe. Vielleicht braucht ja jemand eine Anregung:

"Erfolg" von Lion Feuchtwanger. Großartiges Porträt oder besser Psychogramm der Münchner und Bayerischen Gesellschaft der 20er Jahre im emporstrebenden Nazismus. Sprachlich und stilistisch inspirierend. An der Journalistenschule wurde mir beigebracht, Adjektive um jeden Preis zu meiden. Feuchtwanger zeigt, wie man sie richtig benutzt.

"The Master and Margarita" von Mikhail Bulgakov. Eine surrealistische Marathon durch Stalins Moskau, bei der man sich fragt, ob der Autor nicht vielleicht doch LSD zu sich genommen hat. Vorstellungsgewaltig, philosophisch und irreführend beschreibt Bulgakov wie der Teufel in Gestalt des Professor Woland in Moskau landet und sich die Stadt und ihre Bewohner unterwirft. Klassiker der russischen Literatur.

"Geschichte eines Deutschen" von Sebastian Haffner. Wer immer noch glaubt, die Nazis seien auf einmal da gewesen und haben die Macht an sich gerissen, sollte Haffners sehr persönliche Erinnerungen von 1914-1933 lesen. Eigentlich sollte jeder sie lesen. Guter Einblick in die Ereignisse, die die Nazis erst möglich gemacht haben. Wundervoll erzählt von einem hochintelligenten Kopf.

"Mit Gottes Segen in die Hölle. Der Dreißigjährige Krieg" von Hans Christian Huf. Bisschen geschrieben wie eine TV-Reportage, aber hochinformativ und beängstigend, welch apokalyptischen Zustände in dieser Reihe von Kriegen geherrscht haben. Alles im Namen des Herrn.

"Unter dem Schatten deiner Flügel" von Jochen Klepper. Auszüge aus Kleppers Tagebüchern von 1932-1942. Habe selten etwas deprimierendes gelesen. Klepper sieht die Machtübernahme der Nazis und weiß sofort, dass nichts mehr gut wird, denn er ist mit einer jüdischen Frau verheiratet. Das Schriftleitergesetz der Nazis schließt ihn aus seinen beruflichen Tätigkeiten aus, er schreibt trotzdem weiter, aber alles, einfach alles geht den Bach runter, bis er mit seiner Familie in den Freitod geht.

"Der ersten Deutschen" von S. Fischer-Fabian. Genau und unterhaltsame Geschichte der Germanen.

"Marburg" von Rudolf Pertassek. Stadtgeschichte Maribors. Sehr zahlenlastig und nur in Etappen zu lesen.

"The Art of Fiction" von John Gardner. Standardwerk über das Schreiben. Ziemlich theoretisch bisweilen, aber dennoch mit vielen guten Ratschlägen.

"Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte" herausgegeben von Dirk Ippen. Sozusagen auch ein Standardwerk: Goethe, Mörike, Heine.

"Sämtliche Gedichte" von Ingeborg Bachmann. Einfach nur wunderschön. Lesen!

"In schwarz blühen die schönsten farben" von Regina Hilber. Ziemlich wortakrobatische Gedichtzyklen. Bin mir noch nicht sicher, ob ich dahinter gestiegen bin.