Montag, 17. Dezember 2012

Mein Mariborer Zimmer*

Meine letzten Tage in Maribor. Ich fange langsam an zu packen und wundere mich, wo denn der ganze Kram denn auf einmal herkommt.

Vor meinem Fenster hat der Winter dem Herbst das Kleid ausgezogen. An manchen Tagen fällt Schnee, leider noch zu weich, zu warm, er bleibt nicht liegen. Außer vielleicht auf dem Pohorje, und das ist ein Blick, den ich im flachen Berlin vermissen werde: wie diese schwere Waldschulter in das Land reinreicht, mächtig, aber nicht bedrohlich.

Was packe ich ein, was nehme ich mit, denke ich mir während der eine Koffer schon mit lauter Büchern gefüllt ist und ich langsam nicht mehr weiß, wohin mit den Klamotten, ich bin doch gar nicht mit so viel gekommen.

Zum Glück ist das meiste, das ich aus dieser Stadt mitnehmen werde, virtuell: die Bilder, die Momentaufnahmen, die mein Geist hier in Maribor gemacht hat, das sind die Dinge, die mit mir auf die Reise gehen, und die ich gleichzeitig vermissen werde.

Eben den Blick auf den Pohorje zum Beispiel. Oder der Blick aus meinen Fenster auf den Stadtpark.
Überhaupt der Stadtpark, der mir im Schatten seiner majestätischen, ausladenden Bäume erlaubt hat, klar wie selten zu denken, mich ein bisschen wie Epikur fühlen ließ, der einmal sagte: “Dumme rennen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten.” Diese erdige und laubige Luft wird mir fehlen, ebenso wie um die Teiche zu schlendern, Enten zu füttern, bis mir eine Idee in den Kopf schießt, mich zu erschöpfen, indem ich mehrmals auf den Piramidenberg laufe und oben die Glocke läute, immer mit dem gleichen Wunsch, dann den Ausblick einatme, das Panorama sich in meine Seele brennt.

Ich werde meinen morgendlichen Weg in die Stadt vermissen, Graiska Ulica entlang, einen Gruß an die mächtige Platane entrichtend, die rauchenden Schüler drumherum, den Gang vorbei am Rittersaal, meinen Kaffee auf dem Schloßplatz und die fünf Minuten, in denen ich den slowenischen Frauen erst in die braunen Augen und dann auf den Arsch geschaut habe.

Jetzt, während des Packens, wäscht eine Welle der Erinnerung über mich, obwohl ich noch hier bin, in Sloweniens zweiter Stadt, die meine Nummer 1 war. Der Blick von der Stadtbrücke in den Sonnenuntergang, wenn die Berge anfangen bläulich zu schimmern und die Kirchturmspitzen von St. Urban und der heiligen Roaslia glühen.

Vielleicht werde ich gelegentlich an den Platz unter der Trauerweide neben dem Wasserturm denken, an dem ich so viele Stunden mit meinen Texten und vor allem einigen Gläsern Weißwein verbracht habe. Hm ja, der Weißwein, auch den werde ich vermissen, nicht allerdings den Wein der alten Rebe. Der kann mir, das muss mir erlaubt sein, gestohlen bleiben. Bevor ich am Donnerstag in den Zug steige, werde ich mir noch einen Apfelstrudel bei der Bäckerei Sonne in der Razlagova holen, vielleicht sogar zwei, weil dieser Apfelstrudel in seinem reichen Teig mit der ausladenden, barocken Füllung der beste ist, den ich je gegessen habe. Jeder Besuch bei mir aus Deutschland hat diesen Strudel zum Frühstück bekommen und jeder sagte mit vollem Mund: “Backen können sie anscheinend, die Slowenen.”

Die Slowenen können noch einiges mehr, vor allem sind sie ganz gut darin, das Leben zu genießen, auch wenn sie sich vielleicht gerne beschweren. Dennoch fallen sie oft spontan in ein weinseliges Lied, so dass man sie vielleicht auch als steirische Iren bezeichnen könnte.

Die Slowenen wohnen auf einem wundervollen Flecken Erde, von dem viele noch nichts wissen - warum?, frage ich mich und freue mich doch, weil ich so den Entdecker spielen konnte. Diese “hedonistische Lethargie” wie Andrej Brvar sie beschreibt, die werde ich wirklich vermissen.
Ebenso die kleineren Dinge wie das Wort “Pridi”, bei dem ich mich immer umdrehen musste, weil ich dachte jemand ruft nach mir. Meinen Namen höre ich nämlich eher selten. Dann sind da die dreikonsonantigen Zungenbrecher wie Trg oder Vrt und mein Lieblingswort Adrenalisnki. Gelegentlich werden sie mir bestimmt in den Sinn kommen, plötzlich und ohne Ankündigung und vielleicht werden dann auch in einer Gedankenecke Männer in Trainingsanzügen rumstehen, die versuchen an den schönen Frauen so wenig Interesse wie möglich zu zeigen.

Langsam leeren sich die Schubladen in meiner Wohnung auf Zeit. Dinge wandern entweder in den Koffer oder in den Papierkorb, da stoße ich auf den Anfang meiner Zeit in Maribor. Eine Tüte mit der Aufschrift - wie soll es anders sein? - Kulturhauptstadt 2012, mein Begrüßungsgeschenk. Es stand die ganze Zeit in der Ecke. Ehrlich gesagt, habe ich die ganzen Monate nicht mehr reingeschaut, doch jetzt beim Aussortieren, nehme ich dieses Metallstück in der Plastikpackung heraus. Ich hatte es am Anfang schon mal in der Hand, ich erinnere mich, und dachte es wäre einfach eine Plakette mit einer Inschrift, was man so halt produziert an Gedenkstücken eines großen Ereignisses. Jetzt öffne ich es ganz, und siehe, es ist ein Kreisel. Ein richtig schwerer Metallkreisel. Für die nächste halbe Stunde lenkt er mich vom Packen ab, ich fühle mich wie ein Kind mit einem Spielzeug und dennoch mit den Gedanken eines Erwachsenen, der gerade Abschied nimmt.

Jedenfalls lasse ich den Kreisel über verschiedene Oberflächen wirbeln, über den Küchentisch, das Linoleum, das Parkett im Wohnzimmer, den Steinboden auf dem Balkon. Holz mag der Kreisel am liebsten, dann windet er sich fast endlos, fast wie ein Perpeteuum Mobile, und während ich ihm dabei zuschaue, und meine Gedanken über Maribor und Slowenien ebenso in meinem Kopf kreisen, die Erinnerungen sich schon festigen, bevor sie komplett zur Vergangenheit gehören, denke ich an die Dinge, die ich nicht mehr geschafft habe: Ich wollte eine Nacht hoch oben im Wächterzimmer der Stadtpfarrkirche verbringen, hören und sehen und riechen, wie die Stadt aufwacht, lebt und später wieder zu Bett geht. Ich wollte mich unterhalten mit der Frau, die oft in der Gosposka steht, sich wiegt, a capella singt und dabei eine Perücke trägt. Mit dem Puppenspieler an der Ecke Jurčičeva gegenüber vom Müller wollte ich reden, mit dem Mann, der auf die Rückseite seiner Jacke Hammer und Sichel gestickt hat.

Ich wollte doch noch auf dem Pohorje zelten, ganz alleine im Wald, diesem fantastischen, dunklen, bedrohlichen, beschützenden Wald, der mich immer an die Märchen der Gebrüder Grimm denken lässt. Ich wollte doch noch die ganze Drau mit dem Fahrrad langfahren, wollte eine Kneipentour durch die kleinen Nachbarschaftsbars im alten Eisenbahnerviertel unternehmen, wollte klettern gehen im Karst, die marinblaue Soča entlangpaddeln, mit Boris Pahor und Slavoij Žižek reden.

Aber man kann nicht alles machen, so ist das nun mal. In ein paar Tagen werde ich dieses Zimmer, diesen Raum, den ich mir neu eingerichtet hatte, abschließen und nach Hause fahren. Den Schlüssel werde ich behalten und beim nächsten Mal das nachholen, wozu nun die Zeit fehlte. Bis dahin werde ich von meinen Erinnerungen zehren, wie mein Körper von den zahlreichen Apfelstrudeln.

*Text aus der Abschlusslesung in Maribor






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