Montag, 17. Dezember 2012

Mein Mariborer Zimmer*

Meine letzten Tage in Maribor. Ich fange langsam an zu packen und wundere mich, wo denn der ganze Kram denn auf einmal herkommt.

Vor meinem Fenster hat der Winter dem Herbst das Kleid ausgezogen. An manchen Tagen fällt Schnee, leider noch zu weich, zu warm, er bleibt nicht liegen. Außer vielleicht auf dem Pohorje, und das ist ein Blick, den ich im flachen Berlin vermissen werde: wie diese schwere Waldschulter in das Land reinreicht, mächtig, aber nicht bedrohlich.

Was packe ich ein, was nehme ich mit, denke ich mir während der eine Koffer schon mit lauter Büchern gefüllt ist und ich langsam nicht mehr weiß, wohin mit den Klamotten, ich bin doch gar nicht mit so viel gekommen.

Zum Glück ist das meiste, das ich aus dieser Stadt mitnehmen werde, virtuell: die Bilder, die Momentaufnahmen, die mein Geist hier in Maribor gemacht hat, das sind die Dinge, die mit mir auf die Reise gehen, und die ich gleichzeitig vermissen werde.

Eben den Blick auf den Pohorje zum Beispiel. Oder der Blick aus meinen Fenster auf den Stadtpark.
Überhaupt der Stadtpark, der mir im Schatten seiner majestätischen, ausladenden Bäume erlaubt hat, klar wie selten zu denken, mich ein bisschen wie Epikur fühlen ließ, der einmal sagte: “Dumme rennen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten.” Diese erdige und laubige Luft wird mir fehlen, ebenso wie um die Teiche zu schlendern, Enten zu füttern, bis mir eine Idee in den Kopf schießt, mich zu erschöpfen, indem ich mehrmals auf den Piramidenberg laufe und oben die Glocke läute, immer mit dem gleichen Wunsch, dann den Ausblick einatme, das Panorama sich in meine Seele brennt.

Ich werde meinen morgendlichen Weg in die Stadt vermissen, Graiska Ulica entlang, einen Gruß an die mächtige Platane entrichtend, die rauchenden Schüler drumherum, den Gang vorbei am Rittersaal, meinen Kaffee auf dem Schloßplatz und die fünf Minuten, in denen ich den slowenischen Frauen erst in die braunen Augen und dann auf den Arsch geschaut habe.

Jetzt, während des Packens, wäscht eine Welle der Erinnerung über mich, obwohl ich noch hier bin, in Sloweniens zweiter Stadt, die meine Nummer 1 war. Der Blick von der Stadtbrücke in den Sonnenuntergang, wenn die Berge anfangen bläulich zu schimmern und die Kirchturmspitzen von St. Urban und der heiligen Roaslia glühen.

Vielleicht werde ich gelegentlich an den Platz unter der Trauerweide neben dem Wasserturm denken, an dem ich so viele Stunden mit meinen Texten und vor allem einigen Gläsern Weißwein verbracht habe. Hm ja, der Weißwein, auch den werde ich vermissen, nicht allerdings den Wein der alten Rebe. Der kann mir, das muss mir erlaubt sein, gestohlen bleiben. Bevor ich am Donnerstag in den Zug steige, werde ich mir noch einen Apfelstrudel bei der Bäckerei Sonne in der Razlagova holen, vielleicht sogar zwei, weil dieser Apfelstrudel in seinem reichen Teig mit der ausladenden, barocken Füllung der beste ist, den ich je gegessen habe. Jeder Besuch bei mir aus Deutschland hat diesen Strudel zum Frühstück bekommen und jeder sagte mit vollem Mund: “Backen können sie anscheinend, die Slowenen.”

Die Slowenen können noch einiges mehr, vor allem sind sie ganz gut darin, das Leben zu genießen, auch wenn sie sich vielleicht gerne beschweren. Dennoch fallen sie oft spontan in ein weinseliges Lied, so dass man sie vielleicht auch als steirische Iren bezeichnen könnte.

Die Slowenen wohnen auf einem wundervollen Flecken Erde, von dem viele noch nichts wissen - warum?, frage ich mich und freue mich doch, weil ich so den Entdecker spielen konnte. Diese “hedonistische Lethargie” wie Andrej Brvar sie beschreibt, die werde ich wirklich vermissen.
Ebenso die kleineren Dinge wie das Wort “Pridi”, bei dem ich mich immer umdrehen musste, weil ich dachte jemand ruft nach mir. Meinen Namen höre ich nämlich eher selten. Dann sind da die dreikonsonantigen Zungenbrecher wie Trg oder Vrt und mein Lieblingswort Adrenalisnki. Gelegentlich werden sie mir bestimmt in den Sinn kommen, plötzlich und ohne Ankündigung und vielleicht werden dann auch in einer Gedankenecke Männer in Trainingsanzügen rumstehen, die versuchen an den schönen Frauen so wenig Interesse wie möglich zu zeigen.

Langsam leeren sich die Schubladen in meiner Wohnung auf Zeit. Dinge wandern entweder in den Koffer oder in den Papierkorb, da stoße ich auf den Anfang meiner Zeit in Maribor. Eine Tüte mit der Aufschrift - wie soll es anders sein? - Kulturhauptstadt 2012, mein Begrüßungsgeschenk. Es stand die ganze Zeit in der Ecke. Ehrlich gesagt, habe ich die ganzen Monate nicht mehr reingeschaut, doch jetzt beim Aussortieren, nehme ich dieses Metallstück in der Plastikpackung heraus. Ich hatte es am Anfang schon mal in der Hand, ich erinnere mich, und dachte es wäre einfach eine Plakette mit einer Inschrift, was man so halt produziert an Gedenkstücken eines großen Ereignisses. Jetzt öffne ich es ganz, und siehe, es ist ein Kreisel. Ein richtig schwerer Metallkreisel. Für die nächste halbe Stunde lenkt er mich vom Packen ab, ich fühle mich wie ein Kind mit einem Spielzeug und dennoch mit den Gedanken eines Erwachsenen, der gerade Abschied nimmt.

Jedenfalls lasse ich den Kreisel über verschiedene Oberflächen wirbeln, über den Küchentisch, das Linoleum, das Parkett im Wohnzimmer, den Steinboden auf dem Balkon. Holz mag der Kreisel am liebsten, dann windet er sich fast endlos, fast wie ein Perpeteuum Mobile, und während ich ihm dabei zuschaue, und meine Gedanken über Maribor und Slowenien ebenso in meinem Kopf kreisen, die Erinnerungen sich schon festigen, bevor sie komplett zur Vergangenheit gehören, denke ich an die Dinge, die ich nicht mehr geschafft habe: Ich wollte eine Nacht hoch oben im Wächterzimmer der Stadtpfarrkirche verbringen, hören und sehen und riechen, wie die Stadt aufwacht, lebt und später wieder zu Bett geht. Ich wollte mich unterhalten mit der Frau, die oft in der Gosposka steht, sich wiegt, a capella singt und dabei eine Perücke trägt. Mit dem Puppenspieler an der Ecke Jurčičeva gegenüber vom Müller wollte ich reden, mit dem Mann, der auf die Rückseite seiner Jacke Hammer und Sichel gestickt hat.

Ich wollte doch noch auf dem Pohorje zelten, ganz alleine im Wald, diesem fantastischen, dunklen, bedrohlichen, beschützenden Wald, der mich immer an die Märchen der Gebrüder Grimm denken lässt. Ich wollte doch noch die ganze Drau mit dem Fahrrad langfahren, wollte eine Kneipentour durch die kleinen Nachbarschaftsbars im alten Eisenbahnerviertel unternehmen, wollte klettern gehen im Karst, die marinblaue Soča entlangpaddeln, mit Boris Pahor und Slavoij Žižek reden.

Aber man kann nicht alles machen, so ist das nun mal. In ein paar Tagen werde ich dieses Zimmer, diesen Raum, den ich mir neu eingerichtet hatte, abschließen und nach Hause fahren. Den Schlüssel werde ich behalten und beim nächsten Mal das nachholen, wozu nun die Zeit fehlte. Bis dahin werde ich von meinen Erinnerungen zehren, wie mein Körper von den zahlreichen Apfelstrudeln.

*Text aus der Abschlusslesung in Maribor






Freitag, 14. Dezember 2012

Der Wendepunkt*

Entgegen meiner üblichen Gepflogenheit waren meine ersten beiden Wörter auf slowenisch nicht etwa “Danke” oder “Bitte”, sondern “Zavrtimo Skupaj”. Nicht weil ich mir das ausgesucht hätte, weil ich die beiden Wörter zusammen so gutaussehend fände und sie auch noch leicht auszusprechen wären. Nein, einfach weil sie das Motto der Kulturhauptstadt bilden: Der Wendepunkt.

Überall sprangen mir bei meinen Streifzügen durch die pflastersteinige Innenstadt diese beiden Wörter ins Gesicht, immer in Verbindung mit dem ebenfalls allgegenwärtigen Logo.

Irgendwann habe ich aufgehört darüber nach zu denken. Bis ich mich in stillen Stunden nicht nur mit mir sondern auch mit der Geschichte Maribors anfing auseinanderzusetzen.

Nach und nach merkte ich, dieser Wendepunkt, der die Stadt von einem ehemaligen Industriezentrum in etwas anderes verwandeln soll, er ist nicht der einzige in der Geschichte. Ganz im Gegenteil: alleine im 20. Jahrhundert hat sie dreimal ihre Identität gewechselt. Dazu muss man ja nur mal auf die Straßennamen schauen, wie Drago Jančar in seinem Buch “Nordlicht” schreibt: Aus der Goethestraße wird die Prešerenstraßen, dann löste ihn Goethe wieder ab, am Ende siegte aber doch der slowenische Dichter. So erging es den meisten Straßen und Plätzen in dieser Stadt, die immer wieder aus ihrer Identität gerissen wurde, durch das Zusammenbrechen von Reichen, durch Besatzungen, durch Befreiungen, durch das Platzen von großen Ideen und das kindstotplötzliche Sterben der Industrie. Ein Übermaß an Geschichte sozusagen.

Also ist die Stadt, die Stanko Majcen 1963 als eine von “Zwieblen, Knoblauch, Schweinfleisch, Geflügel und Fett” beschrieb, wieder an einem Wendepunkt. Ein neues Image soll her. Neues Leben. Eine neue urbane Identität, weg vom alten Industriezeitalter, mit Vorliebe in eine progressive, kreative und kulturelle Richtung. Und das ist eine ganz schön große Bestellung.

Vor ein paar Wochen saß ich im Publikum bei einer Podiumsdiskussion mit Leuten aus der EU und noch ein paar anderen Offiziellen und es ging darum, was der Titel Kulturhauptstadt für einen Ort bedeutet. Irgendwann döste ich ein bisschen, wachte aber auf, als die blonde Dame von der EU meinte, dass der Stadtschreiber dabei geholfen hätte Maribor auf der europäischen Karte zu verorten.

“Wirklich? Ich?” Ich hörte hin, ganz konzentriert jetzt, gar nicht mehr müde, war doch plötzlich ziemlich spannend das ganze.

Ja, wegen mir wäre Maribor nun ein Begriff in den kulturellen Zentren Europas, in Berlin, Paris, Barcelona, sogar in New York gebe es schon Bewegungen nach Maribor zu ziehen in diesen neuen Hotspot der Kreativität: Berlin, rück rüber! Und alles nur wegen meines Blogs.

Kaum zu glauben, dachte ich. Wußte gar nicht, dass so viele meinen Blog lesen. Ich schüttelte meinen Kopf und damit landete ich leider wieder in der Realität, die Dame zitierte Zahlen aus dem Tourismusbereich und referierte über Städte in England, die es geschafft hätten, diese Bürde der untergegangen Industrie abzulegen: Liverpool etwa, oder Manchester. Es war überhaupt keine Rede vom Stadtschreiber. Na gut, ein schöner Traum, ich döste wieder ein.

Ein paar Tage später dachte ich über meine Heimatstadt nach, über Rüsselsheim, ebenfalls eine traditionelle Arbeiterstadt, das große Opelhauptwerk hat es berühmt gemacht (zumindest in der Autobranche). Aber seit Jahren gehen die Produktionszahlen und damit die Arbeiterzahlen in den Keller. Die Stadt blutet aus und gerade im kulturellen Bereich tut sich nicht sonderlich viel. Sogar die heiligen Haupthallen stehen jetzt leer, einst Kathedralen des industriellen Zeitalters. Und was macht die Stadt? Sie diskutiert ernsthaft über ein neues Shoppingcenter. Als wäre Konsum die Lösung, Hauptsache die Leute können sich mit irgendwas beschäftigen. In diesem Sinne neide ich Maribor diesen Status, und ja, es ist nie sicher, was hinten bei rauskommt, aber irgendwas muss man ja probieren, nicht wahr? Hermann Hesse zum Beispiel sagte: “Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.”

Wendepunkt. Ich mag das Wort; erinnert mich irgendwie an Henry Miller an Alkohol, Zigaretten und Sex. Oh, Moment, das war Wendekreis des Krebses, nicht Wendepunkt.

Egal, jetzt sind die Gedanken da.

Passenderweise war Maribor für mich selbst auch ein Wendepunkt. Hatte ich vorher lange als Journalist gearbeitet - ein toller Job, aber auch scheiß’ stressig und die Krise in den Medien ist auch nicht wirklich lustig - kam ich nach Maribor mit einem Stipendium, das es mir erlaubte Abstand davon zu nehmen. Das tat ich. Genoß die Stadt, lernte sie und ihre Geschichte kennen, ging in Galerien und auf Konzerte, wanderte im Wald, aber am wichtigsten: ich konnte meine Gedanken in Stille entfalten und meine Stimme finden. Ideen nicht nur haben, sondern auch umsetzen und ausarbeiten. In aller poetischen Ruhe.

Ich habe das Gefühl gewachsen zu sein. Von dem, was ich von langjährigen Einwohnern höre, ist Maribor ebenfalls gewachsen. Und vielleicht wird es weiter wachsen, vielleicht aber auch schrumpfen, denn eines sollten wir nicht vergessen: es liegt in der Natur der Dinge, zu wachsen und zu schrumpfen, zu wachsen und zu schrumpfen. Städte, Länder, Nationen und Staaten steigen auf - und fallen auch wieder. So war es immer und so wird es wahrscheinlich immer sein.

Aber ich will an das Gute für Maribor glauben, daran, dass die jungen Leute hoffentlich nicht abwandern, nach Ljubljana oder ins Ausland, daran dass vielleicht einmal wieder Boote auf den Drei Teichen fahren, die Menschen an der neuen Promenade an der Drau flanieren. Vielleicht wird es sogar slowenische Restaurants in der Innenstadt geben, was mich persönlich sehr freuen würde, vielleicht wird Maribor aber auch zum Hauptquartier des Weintourismus in Slowenien, wenn die Welt erstmal merkt wie gut dieses Tröpfchen ist. Und das Wein und Kreativität zusammen gehen, wissen wir ja schon von den slowenischen Dichtern. Vor allem einer fällt mir da ein, wie heißt er noch mal, ja genau, Janko Glazer:

"Von allen Städten ist Maribor sicherlich am besten,

denn der Wein fließt in unsere Gläser

aus dem Osten und aus dem Westen"

*Text aus der Abschlusslesung in Maribor

Donnerstag, 13. Dezember 2012

Maistrova Ulica 8a*

Zur linken befindet sich die Stadtverwaltung und das Büro des überhaupt nicht beliebten Bürgemeisters, zur Rechten der umso beliebtere Stadtpark, und das Haus selbst ist voller Nachbarn, von denen ich die meisten nie zu Gesicht bekommen habe.

Ich vermute sie sind älterer Natur und haben einen anderen Rhythmus als ich, stehen schon mit der Sonne auf auf, bleiben lange wach, weil sie nicht mehr schlafen können. Ab und zu sehe stehe selbst ich früh auf, und dann sehe ich eine alte Frau, die sich mit ihrem Einkaufswagen die Treppe hochquält. Als ich ihr beim ersten Mal Hilfe anbot, zuckte sie zusammen, als hätte ich gesagt: “Hände hoch”. Beim zweiten Mal das gleiche. Beim dritten Mal muss der Einkauf einfach zu schwer gewesen sein, sie ließ ihn mich hochtragen, warf dann aber, bevor ich mit ihr reden konnte, die Tür schnell vor meiner Nase zu. Das war Frau Mohorič.

Einen anderen Nachbarn rieche ich eher, als ich ihn sehe. Wenn er im Treppenhaus war, liegt für eine halbe Stunde der Geruch von 20 Zigaretten und einem Liter Wein pro Stunde zwischen dem Geländer und den Stufen.

Doch, ich erinnere mich: einen jungen Mann gibt es, den ich ab und zu sehe, wie er mit seinen beiden Hunden ins Treppenhaus kommt, einen davon drei Stockwerke hochträgt. Die Hunde sind ziemlich groß und riechen auch nicht gerade nach Rosen, aber der junge Mann hält den Hund immer so eng im Arm, so fest an seiner Brust, ich bin mir sicher, er hat keine Freundin.

Geruch ist aber ein gutes Stichwort. Jeden Tag riecht es bei mir im Treppenhaus anders. Aber ich rede jetzt nicht vom Tabak, vom Wein oder vom nassen Hund. Sondern von den Gerüchen, die aus brodelnden Töpfen hervorsteigen und sofort Bilder provozieren an Sonntage bei der Oma, wie sie da steht in Schürze und von einem Holzlöffel die Suppe probiert.

Aus irgendeiner der Wohnungen riecht es unheimlich verlockend und ich stelle mir das Essen deftig vor, wärmend, sättigend und immer zuviel.

Ich habe schon mehrmals versucht nasal die Quelle zu lokalisieren, aber ohne Glück. Dann dachte ich: vielleicht klopfe ich einfach an die Türen auf meinem Flur, aber was sollte ich dann fragen: Kochen Sie vielleicht gerade etwas Leckeres? Etwas Slowenisches? Nach der Türzuschlagaktion der alten Mohorič war ich mir nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre.

Neben dem Riechen sind die Ohren mein zweiter Radar für die Vorgänge in den Nachbarwohnungen, vor allem empfangen sie die Signale der Wohnung über mir, von den Ćivčeks.

Wenn ich morgens aufstehe, erwache von Träumen an meinen eigenen Weinberg in Slowenien, höre ich bereits den Fernseher oben laufen. Er läuft den ganzen Tag über in den Abend hinein. Dazwischen lassen Füße das Parkett knarzen, ich folge dem Geräusch in die Küche, spitze meine Ohren, bilde mir ein, dass ich Geschirr aneinanderklirren höre, vielleicht kocht die alte Dame Tee für sich und ihren Mann, bereitet ein kleines Tablett mit Keksen, Brot und Butter.

Immer nur höre ich die Stimmen aus dem Fernseher, nie die Stimmen der Nachbarn: ein altes Ehepaar, stelle ich mir vor, dass auf der Couch sitzt, das Arbeitsleben schon lange hinter ihnen und nun der Fernseher die einzige Waffe gegen die Einsamkeit des Alters.

Dann stelle ich mir vor, ob sie ebenso Geräusche aus meiner Wohnung wahrnehmen, ob sie hören, wie ich die Schränke auf und zu mache, mich erkundige nach der Person, die vorher hier lebte: eine alte Dame soweit ich weiß, ihre Bücher stehen noch im Regal, darunter Werke wie Held Tito, 200 Mittagessen, Das Lexikon der Balkonpflanzen, ein Buch über Marx, die Poesien des tragischen Prešeren. Im Flur ist ordentlich das Putzzeug verräumt, in einer Box Streichhölzer mit einem Bären drauf, die so alt sind, das eines nach dem anderen bricht.

Ich frage mich ob sie hören, wie ich mit den Töpfen hantiere, ein ganzes Set mit Blümchenmuster, deren Griffe glühend heiß werden, meine Oma hatte ganz ähnliche.

Hören sie wie ich mir abends Eiswürfel in ein Glas werfe, mir Vodka, Kaffeelikör und Milch zu einem White Russian mixe? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wundern sie sich ab und zu über die laute Musik und darüber, dass sie sonst keine Stimmen hören.

Das konstante Tippen auf dem Computer werden sie wohl kaum hören, denke ich mir, das wäre bestimmt anders hätte ich eine Schreibmaschine, aber meine gute Olivetti befindet sich derzeit nicht in Maribor. Sie reist nicht gerne.

Eines Tages dann hatte ich gar keine Lust auf meinen üblichen White Russian, es war ohnehin zu früh, gerade mal 11 Uhr durch, vielleicht also eher ein Glas Wein - ganz slowenisch war ich schon geworden. Bei aller Ausstattung allerdings, in diesem meinen geborgten Haushalt befindet sich kein Korkenzieher. Tolle Gelegenheit die Nachbarn kennen zu lernen, dachte ich, fragte Google nach der Übersetzung und bin bewaffnet mit meinen neuen slowenischen Wörtern ein Stockwerk höher zu den Ćivčeks.

Ich klingelte und sah sogleich ein Auge das Guckloch verdunkeln. Ich versuchte mein freundlichstes Gesicht aufzusetzen, wahrscheinlich war das ein Fehler.

Die Tür ging einen spaltbreit auf, ich sah eine Dame mit grauen Haaren, und ich sagte meinen Satz auf, dazu hob ich die Flasche in die Höhe.

Frau Ćivček sah mich an, schaute auf die Flasche Wein, schüttelte mit dem Kopf und schloß die Tür.

Aha, dachte ich, das hatte ich mir anders vorgestellt. Dachte sie, ich wollte den Wein verkaufen? Kurz bevor ich gehen wollte, öffnete sich die Tür wieder. Wieder hob ich die Flasche in die Höhe, sagte meinen Satz.

Aaah, sagte sie, jaja, und bat mich plötzlich rein. Aus dem Wohnzimmer kam ihr Mann dazu, aus dem Fernseher hörte ich zwischen deutschen Stimmen immer wieder einen Hammer herunterfahren. Die beiden waren fleißige RTL-Schauer und fieberten mit den Fällen der TV-Richterin Barbara Salesch.

Eine Minute später redeten wir schon auf Deutsch, während ich noch die Flasche versuchte zu öffnen. Der Mann hörte eher zu, denn wenn er etwas sagte, kam seine Stimme wie aus einem Grab, irgendein Problem im Hals oder in der Lunge.

Ich bot den beiden ein Glas an. Frau Ćivček schaute auf die Uhr, dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: Warum nicht, es ist ja schon 11 durch.

Wir setzten uns gemeinsam auf die Couch und schauten Fernsehen, RTL, etwas, das ich zuhause nie machen würde, der Gedanke, dass so viele Menschen ihren Kopf mit diesem Unsinn zumüllen macht mich nämlich unendlich traurig.

Aber so saßen wir und tranken ein Gläschen und dann noch eines, bis Frau Ćivček die Kiste ausmachte und wir uns endlich unterhielten und ich mir dachte, wenn ich jetzt unten wäre, in meiner Wohnung, würde ich im Apartment 5 in der Maistrova Ulica 8 a zum ersten Mal menschliche Stimmen hören.

*Text aus der Abschlusslesung in Maribor

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Lesung Nr. 3

Doch mit einem kleinen Schuss Wehmut meine letzte Lesung in Maribor absolviert. Die Texte waren entsprechend alle etwas auf Abschied gebürstet: beim Packen und Aufräumen war ja noch mal richtig Zeit zur Reflektion der vergangenen Wochen und Monate.

Ich war sehr froh über die ordentliche Anzahl an Zuhörern, kein Vergleich mehr zu meiner Vorstellung als Stadtschreiber im Juni. Das waren noch Zeiten. Da lag alles noch vor mir, die Stadt, das Land, die Slowenen - alles war mir fremd.

Werde in den nächsten Tagen noch die Texte der Lesung hier veröffentlichen und dann und damit auch langsam aber sicher Adio Maribor sagen. 

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Der Tag, der in der Schublade verschwand*

Es ist 11 Uhr an einem Freitag im November, eigentlich ein normaler Arbeitstag, aber die Büros sind leer, das Schuften eingestellt.

Ich stehe in einem kleinen Kreis von Menschen direkt gegenüber dem Weinladen Vinag, von der Bühne dröhnt mir Umpahmusik in die Ohren, und jemand namens Roman füllt mir ständig meinen Plastikbecher mit Mariborčan nach.

In Maribor auf dem Schloßplatz scharrt sich das Volk um die Weinstände, trinkt, lacht, grölt, tanzt, isst. Um die Mittagszeit sehe ich bereits einige Nasen leuchten, rot wie Signalbojen.

Eine Frau, auch ihre Nase ist schon etwas, rot sagt zu mir: “Da kannst Du jemand das ganze Jahr nicht sehen, aber hier am Martinstag siehst Du einfach Alle!” Sie unterstreicht diesen Ausbruch mit einer Geste ihres Armes, der alle auf diesem Platz umfasst, dann wendet sie sich wieder ihren Freunden zu, sie reden slowenisch, davon verstehe ich leider nicht so viel, aber das ist egal, denn ich denke darüber nach, dass dieser Tag auch in Deutschland eine Bedeutung hat, wenn auch eine ganz andere: Es ist der Beginn der fünften Jahreszeit, des Karnevals, der bis zum Aschermittwoch geht. Getrunken wird also auch, nur viel viel länger. Gut, in Deutschland sind manche Dinge einfach größer als in diesem kleinen Land, in dem ich jetzt schon vier Monate lang bin. Meine Zeit ist fast vorbei, bald muss ich das Land, dessen Umrisse auf der Landkarte wie ein Huhn aussehen, verlassen und frage mich nun natürlich, ob ich von Slowenien nicht nur den Hals, die Brust und die Flügel kennengelernt habe, sondern auch die Innereien?

Von Anfang an wollte ich der Frage nachgehen, wie die Slowenen eigentlich so sind, wollte sozusagen ein paar Begriffe für meine persönliche Schublade. Ich weiß, die Beschäftigung mit Stereotypen ist ein unsicheres Gebiet. Walter Lippmann nennt sie zum Beispiel “eine erkenntnis-ökonomische Abwehreinrichtung gegen die notwendigen Aufwendungen einer umfassenden Detailerfahrung.”

Aha.

Aber ich war und bin einfach interessiert daran, etwas Festes, etwas Haltbares zu haben, wie der griechische Begriff impliziert. Vielleicht liegt das daran, dass ich so herzlich wenig wusste über Slowenien; für mich war es vor diesem Sommer ein böhmisches Dorf. Immerhin habe ich Slowenien nie mit der Slowakei verwechselt, wie etwa der weltgewandte George W. Bush.

Aus der Stadt, aus der ich komme, Rüsselsheim nämlich, eine Industriestadt Maribor nicht unähnlich, kannte ich Kroaten (und ihre Restaurants namens Dubrovnik oder Split, komischerweise immer mit dem Zusatz “Internationale Küche", als wäre die kroatische nicht genug), Serben, Bosnier und sogar Kosovo-Albaner. Aber keine Slowenen.

Ich gewöhnte mir als Stadtschreiber also an, die Frage nach den Stereotypen immer wieder zu stellen.

Wer könnte mir diese Frage besser beantworten, dachte ich, als der Bürgermeister von Maribor, Franc Kangler? Ich weiß schon, er ist unheimlich beliebt hier und in den folgenden Wochen sollte ich noch einige Demonstrationen gegen ihn miterleben. Trotzdem saß ich im Spätsommer mit ihm und einer Parlamentarierdelegation aus Deutschland an einem Tisch im City Hotel und Kangler redete und redete, vor allem redete er von den ganzen falschen Vorwürfen gegen ihn, von den Korruptionsverfahren und den Klagen der Vetternwirtschaft.

Dabei hatte ihn keiner danach gefragt.

Als schließlich der Wein der alten Rebe auf den Tisch kam, von dem ich geheime Fantasien hegte, eine Flasche geschenkt zu bekommen, endlich in einem Atemzug mit Clinton und Mandela genannt zu werden, fragte ich Kangler: Wie sind sie denn, die Slowenen?

Kangler trank einen Schluck von dem dünnen, körperlosen - wirklich, ist ja toll, dass die Rebe im Guinessbuch steht, aber der Wein geht gar nicht, dachte ich und war mir sicher, dass die Flasche immer noch ungeöffnet bei Clinton im Büro steht - jedenfalls trank der Bürgermeister einen Schluck, tat ganz geschmackvoll, und da wusste ich schon, das wird nichts mit der Antwort. “Ja”, sagte Kangler, “also ich habe einen deutschen Mercedes, 30 Jahre alt, fährt spitze, immer noch mit dem ersten Motor, sehr zufrieden bin ich. Mit den Japanern hingegen habe ich keine guten Erfahrungen gemacht.”

So ging das noch eine ganze Weile. Wohl oder übel musste ich mein Glas austrinken, um einfach etwas bei dieser sinnlosen Antwort zu tun zu haben. Gut, der Bürgermeister wusste es also nicht, das war schon mal abgehakt.

Auf dem Schloßplatz holt mich jemand aus meinen Gedanken an den Bürgermeister und schenkt mir das Glas schon wieder voll. Dabei habe ich noch gar nichts gegessen, aber ich bin geneigt, mich den lokalen Gegebenheiten anzupassen.

In der Runde ist eine wilde Diskussion im Gange und ich frage Tina, worum es geht. Um Kangler, sagt sie. Um Kangler und seine Politik der tausend Autoblitzer. Angeblich würden sich die Leute die Nummernschilder überkleben, demonstrieren wollen, sie seien wütend, würden ihn am liebsten aus dem Rathaus und im Knast haben. Später werden sie vor seinem Amtssitz "Gotof Je" skandieren, Du bist fertig.

Dieser Kangler scheint ein ganz schönes Schlitzohr zu sein, denke ich mir, und werde daraufhin schon in den Innenhof von Vinag geschleppt. Unten hat es hier einen tollen Weinkeller mit einigen Fässern, die groß wie kleine Boote sind. Das Weinarchiv langte mal zurück bis in die Zeit der Jahrhundertwende. Dann kamen allerdings die Nazis, und man kann ja viel über sie sagen, aber nicht, dass sie keinen Geschmack hatten in Sachen Wein. Die müssen einige Gelage hier gefeiert haben. Jedenfalls fängt heute das Archiv pünktlich bei Jahrgang 1945 an.

Wir sind im Innenhof, an einer Bar, in der Mitte stehen Fässer hochkant, ein DJ aus der Pekarna spielt, der ehemaligen Militärbackerei, die jetzt ein alternatives Zentrum ist. Das Publikum ist jünger als draußen auf dem Platz, aber ebenso betrunken.

“Hey”, sagt der Typ neben mir, “Ich bin Tomasz”, haut mir zuerst auf den Rücken und dann schenkt er mir ein Glas ein. Tomasz muss sich schon an dem Fass festhalten, seine Augen sind glasig und er redet entsprechend darauf los. Er ist Architekt, seine Frau Arzt, aber eigentlich ist alles scheiße und die Präsidentenwahl am Sonntag interessiert ihn auch nicht. Er macht eine abfällige Geste und sagt: “Scheiß Politiker, die kennen sich alle hier in Slowenien, das Land ist viel zu klein, viel zu klein”, sagt er und schüttelt den Kopf. “Und dieser Kangler, den haße ich am allermeisten, von allen Politikern in ganz Slowenien. Mafia! Alles eine Mafia!”, ruft er aus, schwankt und findet wieder Halt am Fass.

Ich erinnere mich an eine Zugfahrt von Ljubljana nach Maribor. Ich saß mit einer hübschen brünetten jungen Frau im Abteil - ihr Name war Lorna - wir unterhielten uns über Slowenien und irgendwann während der langen Fahrt stellte ich ihr meine Frage. Neidisch seien die Slowenen, sagte Lorna. Neidisch und kleinbürgerlich. Selbstmordgefährdet obendrein.

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich wartete, ob in der Aufzählung noch Platz war für ein paar positive Begriffe, aber da kamen keine mehr. Wer würde sich denn so bezeichnen?, dachte ich. Auf der anderen Seite, Lorna hatte ja “sie” gesagt und nicht “wir”.

Daran musste ich denken, als Tomasz gerade seine Tirade gegen den Staat beendete. “Wieso gehst Du nicht in die Politik”, frage ich, “wieso änderst du nicht etwas?” aber Tomasz guckt mich nur an, als hätte ich vorgeschlagen als nächstes ein Glas Wasser zu trinken.

Wir holen Natalia in unsere Runde, eine Russin aus St. Petersburg, die für paar Tage in der Stadt ist, an der Uni unterrichtet, sehr jung und beängstigend klug ist. Ja, auch sehr hübsch.

“Immer beschweren sich die Slowenen”, sagt sie, “dabei haben die es hier doch so schön! Ich verstehe das nicht.” Tomasz leert seinen Becher, dann sagt er mit noch nassen Lippen: “Wir beschweren uns halt gerne.”

Schnell schenkt uns Tomasz die Gläser wieder voll, damit uns die Füße nicht abfrieren, eine reine Schutzmaßnahme, wie er sagt. Wir stoßen an, auf die Vereinfachung der Vielfalt, auf dass Vorurteile schwerer zu spalten sind als ein Atom. Wer hat das noch mal gesagt? Na ja egal, bisschen spät am Abend für richtiges Zitieren. Wir reden und philosophieren über den deutschen Michel, die französische Marianne, Uncle Sam und Kranjski Janez.

Neulich hatte ich in einem Reiseführer im Kapitel Kultur über die Slowenen gelesen, dass zwei Begriffe immer wieder zu ihrer Beschreibung herangezogen werden: priden (fleißig) und hrepenenje (Sehnsucht). Ich bin mit diesen Begriffen hausieren gegangen, bin aber auch sie nirgends losgeworden.

Inzwischen ist es dunkel und ich habe schon das 10, vielleicht auch das 20. Glas in der Hand. Tomasz tanzt wie ein Narr an Karneval durch die Gegend, Natalia philosophiert über die Liebe der Russen für den Moment und die Gastfreundlichkeit, ich versuche mit schönen Sloweninnen zu flirten, aber meine Augen kreuzen sich leider schon, also höre ich France zu, das ist Tomasz Bruder, Journalist, und der kann mir einiges erzählen, vor allem ist er noch klar im Kopf, hat kaum was getrunken - ungewöhnlich für einen Journalisten - und füllt deswegen meine Stereotypendatenbank mit den folgenden Adjektiven: naturverliebt seien die Slowenen, familienverbunden, diszipliniert, ehrlich, melancholisch, sportbegeistert, genußorientiert, introvertiert.

Gott sei Dank, denke ich, gott sei dank. Doch kein Volk am Abgrund. Ein bisschen bin ich in meinem alkholischen Stupor auch stolz auf mich, denn Frances Aussagen decken sich mit meinen persönlichen Erfahrungen, nur konnte ich mir ja nicht anmaßen, über die Slowenen zu urteilen, oder?

Beim Stichwort introvertiert, jedenfalls, stolpert Tomasz wieder in unsere Runde. “Ein Toast”, schreit er, als wäre ein Krieg gerade zu Ende, “ein Toast!” und füllt die Gläser auf. Ich weiß wie nichts anderes auf dieser Welt, dass der Kater morgen nicht schön sein wird, denke darüber nach, ob die Slowenen wohl ein Wort und auch noch gleich eine Kur dafür haben, da ruft Tomasz wieder: “Ein Toast, ein Toast!”

Leider kann ich mich an den Toast nicht mehr erinnern. Ab da habe ich einen Filmriss. Ich weiß nur noch, beziehungsweise ich fühle es, dass France etwas sehr schlaues gesagt hatte, etwas, dass die ganze Diskussion davor um die Slowenen und ihr Inneres wunderbar zusammen gefasst hat, aber ich will verdammt sein, wenn ich es noch zusammen kriegen würde. Vielleicht ist das ja auch ganz gut so. Der Wunsch die soziale Wirklichkeit irgendwie zu bündeln ist doch auch so lustlos, so banal, ja schon fast gemein. Wie hat Friedrich der Große so schön gesagt: Jeder nach seiner Fasson. Ein schöner Spruch, an den kann ich mich sogar mit dem größten Kater erinnern. Autsch.

*Text aus der Lesung an der Uni Maribor

Winterlicht





Dienstag, 4. Dezember 2012

Daumenkino

Blick aus meinem Stadtparkfenster in den letzten Wochen.












Montag, 3. Dezember 2012

Frontbericht

Ich kann es leider nicht anders sagen. Mein Küchenfenster geht ja direkt zum Innenhof der Stadtverwaltung raus und wie man auf dem Bild sehen kann, füllt sich ebendieser mit sehr, sehr vielen Mannschaftswagen.

In der Stadt machen gerade alle Cafés und Restaurants dicht und über Maribor kreist ein Leichtflugzeug, das ein Banner mit dem folgenden Spruch, hinter sich her zieht: Gotof Je! Was soviel heißt wie "Du hast fertig!"Adressiert an den Bürgermeister Kangler.

Trouble in little Maribortown.

Der Ärger kommt nicht von ungefähr. Vor allem die jungen Leute haben die Machenschaften der politischen Eliten satt und fordern den sofortigen Rücktritt aller, die derzeit in Korruptionsprozesse verwickelt sind. Gegen Maribors Bürgermeister Kangler laufen zehn solcher Ermittlungen.

Die beinden politischen Lager in Slowenien sind extrem zerstritten und sind mehr damit beschäftigt, sich zu hassen und gegenseitig zu blockieren, als für die Bürger zu arbeiten und die Probleme des Landes anzupacken.

Wie hoch die Frustration wirklich ist, zeigt die Wahlbeteiligung bei der Präsidentenwahl in den letzten zwei Wochen: 32 Prozent. 

Erzähl mir was

Am vergangenen Freitag war es mal an der Zeit für ein kleines Experiment: ausgehend von der Prämisse, dass wir alle narrative Wesen sind, unsere Leben wie eine Geschichte stricken, es sequenzieren, weglassen und hinzufügen, so daß vieles (vielleicht sogar alles) im Rückblick etwas außerordentlich Stringentes hat, wollte ich wahllos Menschen bitten, mir eine Geschichte aus ihrem Leben zu erzählen.

Also habe ich mir einen Tisch besorgt, mich in einen der Ausstellungsräume gesetzt, mein Mikrofon aufgestellt und professionell in die Gegend geschaut. 

Mir war schon klar, dass ich eine Alternative vorbereiten muss, einen Fragebogen zum Beispiel, weil manchen die Bitte "Erzähl mir etwas" (verständlich auch) bestimmt überfordern würde.

Hier ist ein Auszug der Ergebnisse:


Maja, 29. Volonteer 

Wer ist Dein Lieblingsautor? 

Hermann Hesse

Welches Ereignis in Deinem Leben würdest Du als wegweisend bezeichnen?

Das Ende meiner letzten Beziehung. Ich habe Schluss gemacht und das war sehr wichtig für mich, endlich loszukommen. Danach habe ich bei einem kroatischen Film gearbeitet, auf einer Insel, und das war unheimlich befreiend, säubernd. Meine ganze Energie hat sich dadurch geändert, von negativ zu positiv.

Was ist Dein Traum vom Glück?

Frieden. Aber den muss jeder in sich selbst finden.

Hast Du ein Lebensmotto?

Versuche in Allem das Gute zu finden.

Was gefällt Dir an Maribor?

Die Energie. Ich mag' die kleinen Dinge hier.


Jasna, 60. Künstlerin


Ich arbeite in meinem Bereich jetzt seit 40 Jahren, habe an der Kunstschule in Ljubljana studiert, bin dann nach Indien und schließlich nach Maribor. Ich war immer selbständig, habe nie einen Job gehabt, das ist doch schon ein Erfolg an sich, oder?

Jetzt ist es wie das Ende eines Marathons. Es war nicht einfach, weil ich nicht wußte, wie man mit dieser Bürokratie umgeht. Künstler sind selten gute Bürokraten, es ist wichtiger, dass wir uns ausdrücken. Trotzdem habe ich es geschafft hier und jetzt zu landen und nun habe ich jede Menge Referenzen. Meine ganzen anderen Künstlerkollegen hat der Papierkram nur abgeschreckt.

Ich habe eine kleine Galerie in der Stadt, in der ältesten Straße, unten an der Drau, früher war das mal das jüdische Viertel, bevor sie vertrieben wurden.

Diese alten Mauern reden mit mir und ich höre zu. Irgendwie kommen viele Anhänger von Alistar Crowley zu mir, vielleicht weil er viel mit Kabbala gemacht hat.

Es herrscht da eine eigentümliche Energie, ich glaube wie an jedem Ort, an dem Menschen tausende von Jahren entlang gelaufen sind.

An jedem 25. habe ich ein kleines Happening. Ich sage zu den Seelen da draußen, worauf wartet ihr, das Jahr geht zu Ende, wir müssen die Energie ändern, die schlechten Sachen müssen raus.


Alenka, 26. Politik-Dozentin 


Wer ist Dein Lieblingsautor?

Boris Pahor

Welches Ereignis in Deinem Leben würdest Du als wegweisend bezeichnen?

Der Moment als ich zum ersten Mal in die USA geflogen bin, ganz alleine. Ich wußte nicht, was ich erwarten sollte, ich hatte noch nicht mal eine Telefonnummer, die ich anrufen konnte. Ich wußte, dass es mein Leben verändern würde - ich hatte davor ein schlimmes Jahr - weil ich zum ersten Mal richtig alleine war. Ich fühlte mich sehr klein, auf der anderen Seite aber sehr stark. Es gab nur mich, keiner kannte mich und so konnte ich mich selbst entdecken. Also habe ich nur das gemacht, worauf ich Lust hatte. Wollte ich alleine ins Kino oder in den Park ein Buch lesen, dann habe ich es halt gemacht. In Maribor ist mir das nie so gelungen; immer will jemand was von dir, erwartet etwas von dir. Ich habe so viel alleine gemacht; ich würde sagen, es hat mich geprägt, weil ich zum ersten mal mutig genug war, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen und auch Nein zu anderen Leuten zu sagen. Ich fühlte mich wirklich frei. Danach wurde alles einfacher.

Was ist Dein Traum vom Glück?

Am wichtigsten ist es, zufrieden mit sich zu sein, 100 Prozent. Die Momente des Glücks sind immer kleine Momente, finde ich. Wie beim Wandern oder mit der Familie. Hättest Du vor drei Jahren gefragt, hätte ich gesagt: Der perfekte Partner, guter Job, genug Geld und zwei Urlaube pro Jahr.

Hast Du ein Lebensmotto?

Du musst im Moment leben, auch wenn das sehr viel Übung erfordert.

Was gefällt Dir an Maribor?

Der Komfort einer kleinen Stadt. Du weißt immer wohin. Es ist ruhig, die Natur ist nah, perfekt um Kinder groß zu ziehen. Ich liebe den Piramidenberg, vor allem wenn ich alleine dort oben bin.


Igor, 35. Dichter 


Vor ein paar Jahren war ich mit ein paar Freunden abends in Maribor aus. Wir sind in die Poststraße und haben uns erst beim Bosnier und dann im Tildos fürchterlich betrunken. Dann sind wir durch die Stadt gezogen, schon ziemlich am Torkeln. Irgendwann sind wir vor einem Schaufenster gelandet und haben uns die Jacken für den Winter angeschaut. Ich brauchte unbedingt eine, aber hatte kein Geld. Also dachten wir uns, es ist drei Uhr morgens, keine Polizei weit und breit, schmeißen wir die Scheibe ein.

Wir besorgten und Pflastersteine und haben genau das gemacht. Als die Alarmanlage los ist, sind meine Freunde abgehauen, nur ich bin geblieben, weil ich unbedingt diese Jacke haben wollte. Allerdings war die Polizei doch nicht so weit weg und hat mich dabei erwischt. Das war so ziemlich der peinlichste Moment in meinem Leben.

Es hatte aber sein Gutes. Ich musste die Nacht auf der Polizeiwache verbringen und als ich langsam nüchtern wurde, schwor ich mir, nie wieder so einen Scheiß zu bauen und mich ganz auf das Schreiben zu konzentrieren. Das war vor ein paar Jahren und heute kann ich tatsächlich vom Dichten leben. Nicht ausufernd aber immerhin. Ich sage immer: Ein Künstler lebt nur ein kleines bisschen besser als ein Clochard.

Lesung wird verschoben

Anscheinend wird der heutige Protest in Maribor noch mal eine Runde größer als in der vergangenen Woche. Dazu soll der ganze Zug durch die Innenstadt und dann zum Rathaus marschieren. Also hat sich die Kulturdirektion dafür entschieden, alle Veranstaltungen heute Abend abzusagen, meine Lesung eingeschlossen.

Ich finde das ziemlich wild. Fast juckt es mich, hier journalistisch einzugreifen. Allerdings ist dafür meine Zeit gerade ein wenig knapp.

Neuer Termin für meine Abschlusslesung jedenfalls ist am Mittwoch um 16:00 Uhr. 

Freitag, 30. November 2012

Einladung zur Abschlusslesung

Gerade fliegt mir die Zeit davon und ich sehe mich schon in Berlin auf dem Weihnachtsmarkt. Davor steht aber noch meine Abschlusslesung in Maribor an, was heißt, dass ich am Wochenende noch fleißig ein paar Texte für das (jetzt) verwöhnte Publikum von Sloweniens "Second City" zimmern muss.

Ich freue mich (natürlich!) über zahlreiches Erscheinen von Interessierten an den Stadtschreibergedanken. Die Lesung findet statt am Montag, 3.12.2012, um 18:00 in der Vetrinjska ulica 30.

Donnerstag, 29. November 2012

Letzte Momentaufnahmen

Vielleicht der letzte Spaziergang am Flußufer. Auf der anderen Seite die Pfarrkirche des heiligen Josef, links geht's in das ehemalige Eisenbahnerviertel. Zum Abschied noch mal 18 Grad, der Winter will noch nicht kommen. Gefällt mir.

Mittwoch, 28. November 2012

Abschiedstournee

Großartigerweise schon wieder Besuch aus Deutschland; perfekte Entschuldigung, um noch ein bisschen durch das Land zu fahren, noch ein bisschen was zu sehen von diesem schönen Slowenien, bevor es am Ende der nächsten Woche wieder nach Hause geht.

Also sind wir zuerst nach Skofja Loka gefahren, einer der ältesten Städte in Slowenien. Ich denke, das Bild sagt alles.


Von da ging es weiter durch über die Dörfer und eine großartige Paßstraße zum Bohinj-See. Vor ein paar Monaten war ich ja schon mal in Bled, aber von dem ganzen Tourismus dort nicht so angetan. Bohinj hingegen (vielleicht auch nur zu dieser Jahreszeit) war an diesem Wochenende eine Oase der Ruhe. Es hilft natürlich auch, wenn eine Seite unbebaut bleibt.




Die Sonne ging leider viel zu schnell unter und im Dunkeln hatten die ganzen leeren Hotels etwas gruseliges; Kirchenglocken läuteten, aber keiner begab sich zum Gottesdienst.

Wir sind dann weiter nach Ljubljana. Richtig ausgehen wollten wir. Aber unsere Erlebnisse in der Hauptstadt sind schon Stoff für den nächsten Eintrag.



Dienstag, 27. November 2012

Kangler ohne Ende

Ausnahmezustand herrscht also nicht nur in Maribor wenn Dinamo Zagreb zu Gast ist, sondern auch wenn der Bürgermeister einfach nicht aus seinem Amt scheiden will.

In den letzten Tagen gab es immer wieder Demos, aber die Veranstaltung gestern war eine andere Nummer: stundenlang explodierten Böller am Maisterplatz (ungefähr 50 Meter Luftlinie von mir), sperrten Polizisten in Vollmontur die Straßen und kreisten Hubschrauber über dem Gebiet.

Und das im beschaulichen Maribor.

Freitag, 23. November 2012

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit*

Unterwegs in Maribors Wäldern, langsames Gehen zwischen Platanen, Sommerlinden und Rotbuchen. Wenn man mal darüber nachdenkt, gibt es unheimlich viele schöne Baumnamen, ein ganzes Kompendium, das den meisten vielleicht fremd ist. Das gilt auch für die Pilze, die gerade Saison haben, die in den Wäldern gepflückt werden von Männern mit Mützen und Zigaretten im Mundwinkel: Scheibenstreiflinge, Stockschwämmchen, flockenstielige Hexenröhrlinge.

Die Schritte durch das Laub setze ich in einer Geschwindigkeit, in der es sich behende denken lässt. Irgendwas an dieser Tempo-Gedanken-Kombination fühlt sich natürlich an, ursprünglich. Bruce Chatwin, der britische Reiseschriftsteller sagte einmal, “Das Leben ist eine Reise, die am besten zu Fuß bewältigt wird.” Ich bin geneigt, ihm Recht zu geben.

Nur, diese Art des Gehens, das auf das Diktum “je länger desto besser” angewiesen ist, sie kostet Zeit.

Genau die Art Zeit, die viele nicht mehr haben. Früher habe ich von meinen Freunden immer gehört “nee, können wir nicht machen. Kein Geld.” Heute heißt es hingegen immer “nee, geht nicht. Keine Zeit.”

Durch einen Wald von Stieleichen komme ich zu einer Kapelle und lese die Inschrift. Sie ist Station eines Kreuzwegs, den die Überlebenden der Pest in Maribor im Jahre 1683 gebaut haben. Ich folge dem Weg, denke an diese gläubigen Menschen, für die der Aufenthalt im Diesseits noch nichts weiter als eine Durchgangsstation war. Das wahre Leben, das war hinter den Toren aus Perlmutt.
Heute sehen das die meisten anders. Und doch verschwenden wir unsere Zeit. Indem wir sie nicht ausnutzen.

Jeder Europäer schaut im Durchschnitt 232 Minuten Fernsehen pro Tag. Umgerechnet auf ein ganzes Jahr sind das etwa 45 Tage vor dem Bildschirm, Tag und Nacht. Ist das nicht traurig? Und trotzdem hat keiner Zeit?

Das schlimme am Älterwerden ist, dass sich das Empfinden für Zeit ändert. Sie vergeht schneller. Manchmal höre ich mich schon an wie meine Mutter, wenn ich sage: Wahnsinn wie schnell die Zeit vergeht. Meine Mutter freut sich natürlich über meine neu gewonnen Einstellung und nickt.

Plötzlich stoßen Begriffe wie “früher” und “damals” an die Oberfläche. Begriffe, die es im Vokabular eines Teenagers genauso wenig gibt, wie eine Antwort auf die Frage nach dem Ende des Universums.

Der Weg führt einen Berg hinauf, ein schmaler Streifen von festgetretener Erde, an manchen Stellen die quetschenden Hufspuren von Pferden. Kavalirje nennt sich dieser Hügel und auf der Spitze haben die Überlebenden eine Kirche gebaut. Die ganzen Steine hier hoch geschleppt, an der Außenwand der Kirche der heiligen Barbara und Rosalia Statuen von Jesus und Maria angebracht. Ein Ort, der grimm-märchenhaft im Wald lauert, überwachsen von den Kronen der Linden. Zeitlos setze ich mich auf eine Bank davor.

Was könnten wir erreichen, wenn wir unsere Zeit nicht so verschwenden würden? So vieles verschieben wir auf morgen, planen es in fünf, in zehn Jahren, wenn mal Ruhe dazu ist, wenn mal Zeit dafür da ist; vielleicht sind wir aber dann schon längst andere Menschen geworden.

Die Revolutionen und die Kriege der Vergangenheit haben uns in die freiste Gesellschaft aller Zeiten gebracht. Frei im Handeln, frei in Gedanken, gelenkt von Kant und Kyrene. Sicher verankert in einem Sozialsystem, nach dem sich Bewohner von vergangenen Jahrhunderten die Finger lecken würden. Irgendwann werden wir zurück schauen und uns fragen, wo die Zeit geblieben ist. Vielleicht werden dann schon die schlechten Zeiten angebrochen sein.

Wenn nur jeder Zweite so eine (metaphorische) Kirche bauen würde, wenn wir uns wieder konzentrieren würden auf die wirklich wichtigen Dinge, wir uns wieder Ziele stecken würden, wenn wir Abenteuer planen und sie ausführen würden, wenn wir mehr Energie und Zeit investieren würden, um diese Welt zu verbessern - wir wären sicherlich zufriedener. Vielleicht sogar glücklich.

Aber das alles braucht Zeit, wie guter Wein. Und wenn ich mir anschaue, wie ich selbst oft mit meiner Zeit umgehe, wie Freunde von mir sie nicht schätzen, wie Bekannte und andere Menschen der Zeit nicht befehlen, ihnen Untertan zu sein, muss ich an einen Spruch denken, den ich vor vielen Jahren von einem Soldaten gehört habe, der mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht. In Afghanistan sagt man: Die im Westen haben die Uhr, aber wir haben die Zeit.

*Text aus der Lesung in Ljubljana

Donnerstag, 22. November 2012

Der Stadtschreiber in der Zeitung

Der Večer hat sich der Lesung in der vergangenen Woche angenommen und einen Artikel darüber veröffentlicht. Ist zwar auf slowenisch (klar), aber das sollen ja einige hier beherrschen. Ich habe mir den Text selbst durch den Übersetzer von Google gejagt, und soweit ich das beurteilen kann wurde ich nicht beschimpft. Ni slabo.

Hier gibt es auch eine Online-Version, die ist aber anscheinend nicht ganz vollständig.

Dienstag, 20. November 2012

Lesung Nr. 2

Das war eine ganz andere Nummer als die erste, damals in Ljubljana. Diesmal war die Lesung gleich Teil eines Seminars am Germanistik-Institut der Universität in Maribor und lief unter dem Titel "Archäologie der Fremde".

Ich wußte vorher nicht so genau, was mich erwarten würde. Der Prof. Dejan Kos hatte mir zwar gesagt, dass die Studenten etwas in der Richtung von Essays vorbereiten würden, aber ich war dann doch überrascht, als mir klar wurde, dass sich da Referatsgruppen gebildet hatten, die sich einzig und allein mit mir und dem Blog des Stadtschreibers beschäftigen mussten.

Also: ich fühlte mich wirklich sehr geehrt, auch wenn ich natürlich weiß, dass diese Entscheidung von den Studenten nicht freiwillig getroffen wurde. Aber die meisten haben sich wirklich Mühe gegeben: sezierten meinen Blog nach den Gesichtspunkten "Geschichte, Kulinarik, Sport, Bildung und Kultur", zitierten aus meinen Texten (Wahnsinn!) und stellten mir eine Menge kluge Fragen.

Nach dieser sehr interaktiven Phase, für die ich mich hier nochmal bei den Studenten bedanken möchte, habe ich ein paar neue Texte gelesen. Vor allem eine Geschichte über den Martinstag, den unbeliebten Bürgermeister (hätte nicht gedacht, dass allein sein Name solch' eine Reaktion auslösen kann) und Stereotype über Slowenen schien ziemlich gut angekommen zu sein, mal nach dem Gelächter beurteilt und wenn Studenten lachen ist ja schon was gewonnen - außer sie haben über mich gelacht.

Mein Dank gebührt auch Dejan Kos für die Idee und das inspirierende Eingangsreferat, sowie Veronika Haring für die Organisation. Hvala lepa.

Allerdings, bei aller Freude, eines ist mir dann doch negativ aufgefallen: im Gegensatz zu meiner ersten Lesung gab es für den Stadtschreiber keinen Whisky. Gut, vielleicht ist um die Mittagszeit auch einfach zu früh dafür.

Montag, 19. November 2012

Aufstand in Maribor

Es gibt ja hier so ein paar Themen (wie überall wohl) über die es sich mit jedermann hervorragend lästern lässt: zum Beispiel der Zustand der Eisenbahn (traurig, schlimm, unhaltbar, rückständig, absurd). Was allerdings die Mariborer regelmäßig auf die Palme treibt, ist vor allem ein Name: France Kangler, der Bürgermeister. Über mein Erlebnis mit ihm hatte ich ja hier schon berichtet.

Jetzt hat es der Bürgermeister allerdings wohl auf die Spitze getrieben, indem er überall mobile Blitzer hat aufstellen lassen. Da ist dann das Fass übergelaufen und die Einwohner haben sich zu einer Demo vor der Verwaltung (direkt bei mir um die Ecke) versammelt (nebenbei sollen sich einige die Nummernschilder überklebt haben), Bengalos angezündet und Kangler aufgefordert, rauszukommen. Hat er natürlich nicht gemacht, wäre er ja auch schön blöd.



Schattenspiel





Florianssäule in der Altstadt.

Montag, 12. November 2012

Fahrraddiebe

Oh Mann, wie peinlich mir das ist. Der außerordentlich nette, hiesige Germanistikdozent hat mir sein Fahrrad geliehen, damit ich mir nicht immer die Füße wundlaufen muss. Ein richtig gutes Mountainbike war das. Hatte extra noch mein Schloss aus Berlin mitgebracht, weil mir die örtlichen bisschen zu dünn vorkamen (und ich deswegen dachte, na, Diebstahl scheint hier nicht das Problem zu sein). Falsch gedacht. Seit Samstag ist es weg. Schön vorm Fitness-Studio die Schlösser mit dem Bolzenschneider durchgeschnitten.

Das ganze Desaster hat mich dann immerhin zu meiner ersten Erfahrung mit der slowenischen Polizei geführt. Direkt angerufen (vielleicht erwischen sie den Dieb ja noch), die Polizei sagt, ja, wir kommen vorbei. Allerdings sagen sie nicht wann. Nach 45 Minuten erfolglosem Warten bin ich dann selbst auf die Wache gegangen.

Dort durfte ich schon wieder warten. Schließlich kamen zwei Streifenpolizisten und nahmen den Fall auf. Aber nicht ohne mir das Gefühl zu geben, dass ich der Verbrecher sei. War irgendwie eine ostige Erfahrung. Haben nämlich auch schnell nachprüfen wollen, wo ich vorher war, und ein Anruf genügte um rauszufinden, dass ich vor zwei Monaten in einem Hotel in Jeruzalem, einem kleinen Weinort hier im Osten, übernachtet habe. Das fand ich doch bisschen gruselig.

Na ja, so ist das gerade. Ätzend. Wer also ein rot-weißes Mountainbike der Marke Vertiec durch die Gegend fahren sieht....

Drei Farben Gelb

Während sich in Deutschland das Laub ja schon verabschiedet hat (wie mir zu Ohren gekommen ist), klammert es sich hier immer noch an die Äste. Traumhaft.








Blaues Maribor

Traditionell auch Martinstag genannt. Findet eigentlich am 11. November statt, aber weil der Tag auf einen Sonntag fiel, die Leute am Montag ja arbeiten müssen, wurde kurzerhand am Freitag gefeiert: ab 10 Uhr morgens tönte Umpah-Musik durch die Stadt und die Leute scharrten sich um die Wein- und Essens-Stände.

Die Mariborer selbst sagen: "Du kannst jemand das ganze Jahr nicht sehen; hier triffst du ihn dann auf jeden Fall."

Die Stimmung war natürlich ausgelassen. Wie soll es auch anders sein, bei so einem kollektiven Besäufnis? Dementsprechend gab es sehr offene Gespräche mit den Slowenen; ich arbeite allerdings noch daran, die Details davon aus meiner (sehr dunklen) Erinnerung hervorzukramen.


Freitag, 9. November 2012

Professor Vodnik und der imperialistische (Alp)Traum*


Ein paar Kastanien die Straße runter wohnt Professor Vodnik, ein tannenschlanker Mann, der seit vielen Jahren eine historische Affäre mit den Habsburgern unterhält.

“Kommen Sie nur herein”, sagt er, “kommen Sie nur herein” und öffnet die eichenholzige Tür sperrangelweit. “Willkommen in der österreichisch-ungarischen Botschaft.”

Vodnik lächelt wie ein Kind in Disneyland. Sein Blick schweift von Wand zu Wand, vom Boden zur Decke, vermisst den Raum mit sicherem Blick; 40 Jahre lang hat er ihn ausgestattet mit den Memorabilia eines untergegangen Reiches, mit Dolchen, Messer, Gewehren, Orden, Postern, Bügelleisen (alleine davon 25) und gestickten Bildern, die den ersten Weltkrieg stofflich feiern.

Vodnik und die Brille auf seiner Nase springen von einem zum anderen Stück, er zückt den Dolch aus der Scheide, hält sich die Orden an die Brust, hebt ein Bügeleisen und packt es mit beiden Händen, um die gußeiserne Schwere zu demonstrieren. Sein Lippen glänzen und bewegen sich zitternd, wenn er erzählt, dass er manchmal den imperalistischen Traum täumt, seine Gedanken mit dem Gold der Habsburger auskleidet, mit den Bildern von Paraden, edlen Damen und Herren, dazu klingen Mahlers “Lieder eines fahrenden Gesellen” fein in seinem Ohr.

Ja, sagt Vodnik, schön wäre das, und versinkt in dem Gedanken an die ebenso versunkene Zeit. Franz-Josef, der hatte noch Statur, wenn es heute doch noch so wäre, sagt er und seufzt.

Dann zersäbelt seine Frau ihm den bunten historischen Ballon und sagt: Igor, dein Traum wurde ein Alptraum, vergiss das nicht.

Ich verlasse Vodnik’s Zeitkapsel und gehe in die Stadt. In den Gedanken spuken die Bilder von untergegangen Reichen. Unter meinen Füßen das Kopfsteinpflaster Maribors, an den Ecken manchmal kunstvoll verzierte Straßenschilder. Eigentlich alles Wegweiser durch die Geschichte dieses Ortes.

Vorbei am Maisterplatz, der Held thront vor dem Gymnasium, nur die Kastanie neben ihm thront noch größer. Auf den Platz der Freiheit, dann in die Partisanenstraße, in die Straße des 17. Juli, ich kreuze Tito, laufe über den Boris Kidrič Platz, entlang der Befreiungsfront und den proletarischen Brigaden, mache einen Bogen und kehre über den Leon-Stuckl Platz wieder zurück.

Es gibt in Maribor 699 Plätze, Straßen, Wege, Gassen, und dampft man diese Listen der Namen ein, setzt man die Jahreszahlen chronologisch, bekommt man eine kleine, grobe und sehr kurze Geschichte einer Stadt.

Die Industriestraße, die Straße des 10. Oktober, Held Jevtiča. Jeder Name eine Erinnerung an eine vergangene Zeit, an eine vergangene Idee, an ein wegweisendes Ereignis. Meistens ohne es zu merken, laufen wir ständig mitten durch die Geschichte, mitten durch ein Gedankenmuseum.

Links der Drau sammeln sich die Straßen zur Altstadt, die wirkt wie neu geschminkt. Lange Wochen laufe ich durch sie hindurch und denke: hübsch. Dann langweilen sich die Gedanken an der Schönheit und suchen die Geschichte, die nicht gerne an der Oberfläche weilt, die, wie Itzok Simoniti schreibt, nicht nur Lehrmeisterin des Lebens sondern auch des Todes ist. Unter dicken Pflastern liegen da die Wunden der Besitzerwechsel und der Kriege, da lächeln noch siegesbewusst die Habsburger, das Königreich SHS, die Nazis und Tito. Jetzt aber ist Slowenien nur Slowenien, ein Twen unter den historischen Staatsgebilden.

Vodnik hingegen kann jungen Dingern nichts abgewinnen, er mag lieber die älteren Damen, die reiferen. Deswegen fuhr er mit dem Rad durch sein kleines ganzes Land, immer auf der Suche nach einem weiteren Stück zu seinem historischen Glück. Er lernte den Franz-Josef gut kennen, ebenso die allerliebste Sisi, auch den Bruder und die ganze andere Baggage.

Wenn sie im Jetzt passiert, scheint Geschichte immer fern zu sein. Vielleicht liegt das an diesem so flüchtigen Frieden, den ich genieße schon mein Leben lang. Ich habe die Mauer fallen sehen, die Sowjetunion zerbröseln, den Balkankrieg, Krieg in Nahost, im Irak und in Afghanistan. Ich habe es alles gesehen - aber ich habe es nicht erlebt; ich musste nicht in Uniform auf ein Schlachtfeld in der Fremde oder in der Heimat. Ein Ausrutscher der Geschichte für den ich sehr dankbar bin.

Wird alles so bleiben?, frage ich mich, als ich auf dem Weg nach Hause am Gymnasium vorbeikomme. Die Schüler lungern auf den Bänken neben General Maister, lachen, rauchen, flirten, essen.

Vielleicht sitzt einer von ihnen in 50 Jahren in der Behörde für Straßennamensgebung und überlegt welche Ereignisse es verdienen, an die neuen (oder alten) Straßenecken genagelt zu werden. Vielleicht würde ihm da die Straße des 26. Februar in den Sinn kommen, die Straße des Helden Kopanicek oder die Straße der Errettung. Ereignisse, von denen wir noch nicht die geringste Vorstellung haben.

Ein paar Tage später spaziere ich im Park, versuche zu denken unter Kastanien über die Vergänglichkeit von Ideen und über unseren festen Glauben, dass alles so bleibt wie es ist.

Ich biege ab, jetzt an Eichen entlang und treffe Vodnik wie er da geht mit zwei Hunden, die kläffen und Zähne fletschen und so groß sind wie Katzen.

"Guten Tag", sagt Herr Vodnik, "wie geht es ihnen?" Hätte er einen Hut, er würde ihn ziehen.

"Ganz gut", sage ich, und streichele die Hunde, sie versuchen mich zu beißen, etwas lächerlich mit den kleinen Zähnen.

Wie heißen sie denn?, frage ich Vodnik.

A & O, sagt er und als er sieht dass ich mich frage hinsichtlich der Namenswahl, erklärt Vodnik mit einem Lächeln auf seinen glänzenden Lippen: “Das sind die slowenischen Anfangsbuchstaben für Österreich und Ungarn.”

Alles wird immer anders, aber manches bleibt gleich und wenn die Gegenwart zur Geschichte wird, bin ich vielleicht nicht mehr da.

*Text aus der Lesung in Ljubljana

Donnerstag, 8. November 2012

Das Ende naht

Wie der Herbst geht auch langsam meine Zeit hier in Maribor zu Ende. Im Dezember werde ich wieder in Deutschland sein; jetzt sitze ich gerade an der Vorbereitung von zwei Lesungen, sortiere die Themen, über die ich noch vor meiner Abreise aus dieser schönen Stadt schreiben will.

Und während ich so über meinen Papieren brüte, dachte ich, falls jemand von Euch noch etwas hat, über das ich unbedingt schreiben sollte, dann her mit dem Vorschlag. 

Mittwoch, 7. November 2012

Turnerlegende Štukelj

Den hätte ich ja gerne kennengelernt: Leon Štukelj, slowenische Turnerlegende mit zweifellos bewegtem Leben: insgesamt 20 Medaillen, davon drei mal Gold bei den olympischen Spielen in Paris (1924) und Amsterdam (1928), Silber dann zum Karriereabschluss 1936 in Berlin. Danach arbeitete Štukelj als Richter, später, nach dem Zweiten Weltkrieg durfte er es nicht mehr, weil er nicht auf der Seite von Titos Partisanen war.

Bis ins (sehr) hohe Alter hielt sich Štukelj fit, konnte mit 90 noch aus dem Sitz in einen Handstand gehen. Sollte sich jeder von uns zum Vorbild nehmen.

1996 war er Ehrengast bei der Olympiade in Atlanta, als ältester lebender Olympiasieger, und da lief er über die Tartanbahn wie ein kleiner Junge, so leicht und behende im Gang, nicht weit entfernt von seinem 100. Geburtstag. Angeblich war er auch dem Wein nicht abgeneigt, vielleicht ein weiterer Grund für die Liebe der Slowenen zu diesem Turner.

Dienstag, 6. November 2012

Küstenperle

Gerade ist nicht besonders viel los in der Kulturhauptstadt, deswegen bin ich am Wochenende mit einem Freund nach Piran gefahren, das liegt an der (kurzen) slowenischen Küste und wird gemeinhin als Perle bezeichnet: Die Stadt befindet sich auf einer Landzunge, die ins Meer ragt, hat verwinkelte Gassen und viele Restaurants mit Meerblick. Leider wissen das auch jede Menge Touristen, die hier in Busladungen ankommen und Piran etwas von einem Freilichtmuseum geben. Bemerkenswert vor allem: ziemlich viele japanische Touristen, die sich Piran als Zeichenmotiv ausgewählt haben und an jeder Ecke der Stadt mit einer Staffette zu sehen sind. Gut, ist auch hübsch, dieses Piran. Vielleicht sogar zu hübsch, so wie der Bleder See.















Hochwasser

Am Sonntag saß ich noch mit einem Freund unten am Wasserturm an der Drau, da war sie noch so faul wie immer. Gestern aber erkannte ich sie nicht mehr wieder: ein brauner, wellenschlagender Strom, der inzwischen Teile Sloweniens unter Wasser gesetzt und Erdrutsche ausgelöst hat. Eine Stadt ist sogar komplett von der Außenwelt abgeschnitten, alle Rettungskräfte sind im Einsatz. 

Freitag, 2. November 2012

Ohne Worte


Mittwoch, 31. Oktober 2012

Sloweniens Goethe


Eigentlich wollte ich schon die ganze Zeit mal etwas über France Prešeren schreiben, kam aber irgendwie nicht dazu. Prešeren wird in Slowenien verehrt wie Goethe in Deutschland. Als er noch am Leben war, sah die Lage allerdings ganz anders aus. Wie so oft.

Prešeren (1800-1849) arbeitete die meiste Zeit seines Lebens als Angestellter einer Anwaltskanzlei in Ljubljana. Nebenbei widmete er sich der Lyrik, oft im Rahmen des neu entstehenden Nationalbewußstseins. In einer Zeit als Deutsch die lingua franca war, setzte Prešeren neue Maßstäbe der Dichtung in slowenischer Sprache. Doch sein Hautpwerk, die "Poesien", wurde nur 30 mal verkauft. 

Prešeren war ein Trinker und Schürzenjäger und dichtete unter anderem aufgrund einer unerwiderten Liebe. Als er einsam und verbittert an einer Leberzirrhose starb, hatte er sicherlich nicht die Hoffnung irgendwann im Kanon der slowenischen Literatur zu stehen. Aber so geschah es. Noch dazu singen die Slowenen als Nationalhymne die siebte Strophe seines Gedichts "Zdravljica": 

“Es leben alle Völker, die sehnend warten auf den Tag,
dass unter dieser Sonne die Welt dem alten Streit entsag!
Frei sei dann jedermann,
nicht Feind, nur Nachbar mehr fortan!”

Dienstag, 30. Oktober 2012

Casino bourgeois

Nette Ausstellung im ehemaligen Casino (schade, dass es keins mehr ist) über das Bürgerturm hier zwischen den Kriegen. Da sind ein paar ganz interessante Informationen, Bilder und Memorabilia dabei, wie zum Beispiel die Taschenapotheke im dritten Bild. Hab' ich auch noch nie von gehört.




Montag, 29. Oktober 2012

Bleder See

Da fährt man so durch Slowenien und fragt sich, wo die ganzen Touristen sind, da antwortet der Bleder See: hier!

Der See an sich ist wunderschön, warm noch dazu, aber fast die ganze Uferpromenade ist verbaut, der Verkehr zwängt sich durch die kleinen Straßen, nervt, und man hat das Gefühl, alle Touristen in Slowenien sind jetzt gerade hier an diesem See, der früher einmal der Sommersitz der jugoslawischen Königsfamilie war. Noch früher allerdings hatte sich jemand überlegt, den See zu leeren, um an den Ton auf dem Boden zu kommen, zwecks Backsteinherstellung.

Ganz offensichtlich wurde es nichts mit diesem Plan, stattdessen ist der See gesäumt mit Hotels, Spas und Restaurants. Das heißt, man muss die Augen und die Ohren ein bisschen zukneifen, die Touristen und den Lärm ausblenden, sich ein paar Jahrhunderte zurück versetzen, dann hat man das richtige Gefühl für diesen See.




Freitag, 26. Oktober 2012

Heimat*


Vor meinem Fenster schüttelt sich die Blautanne im Wind, krappbraune Kastanienblätter fegen durch die Luft, die Sonne verstrahlt Chromorange. Blätter sinken zu Boden und warten auf Kinder, die mit ihren tapsigen Füßen hindurchknarzen.

Aus meiner Wohnung am Stadtpark sehe ich ihn, wie er diese Stadt betritt, verneige mich und sage: Guten Tag, Herr Herbst.

Ich bin gerne in seiner Gesellschaft, schaue aus dem Fenster während die Sonne jeden Morgen den Nebel verbrennt, sitze an meinem Fenster wie damals meine Oma. Die saß dort jeden Tag in einer anderen Stadt, in einem anderen Land, in einem anderen Geist.

Sie saß dort viele Jahre, ihr Mann - mein Opa - war gestorben, sie vermisste ihn und sein Winken, wenn er von der Arbeit kam, sie vermisste sein Geschick am Bau eines Schwarzbrotes mit einer ersten großzügigen Etage aus Hüttenkäse und einem Dach aus Kirschmarmelade.

So lange hatte sie darauf gewartet, in dieses Deutschland zu kommen, in die alte Heimat, hatte im Kopf immer die Koffer gepackt, den Namen geflüstert als sie im Straflager in Sibirien im Winter nichts anderes zu essen hatte, als das Leder der Schuhe.

Irgendwann Alice, sagte der Vater zu ihr, gehen wir zurück in die Heimat. Irgendwann sind wir dort, wo wir hingehören.

Und trotz des Hungers und des Durstes, trotz der Kälte, der Läuse und den ständigen Beleidigungen, den Strafen und den sterbenden Freunden - so geschah es.

Eines Tages unterhielten wir uns bei einem Stück Napoleontorte in ihrer Küche, am Fenster, über diesen Moment des Grenzübertritts von einer Idee in eine andere. Was das Schönste sein sollte, endlich heimzukehren, platzierte sie in einen Zwischenraum, den sie nie wieder verlassen hatte. “Weißt Du”, sagte sie, “der Himmel hing in Deutschland doch nicht voller Geigen.” In Russland war sie die Fritzenbrut, eine Verräterin - in Deutschland, ihrer Heimat, nach der sie sich so viele Jahre gesehnt hatte, die sie sich in einem mentalen Bilderbuch - schön bunt - ausgemalt hatte, hier war sie die Russin.

Am Ende saß sie am Fenster und schaute die lange Straße hinab, die sie gegangen war und wünschte sich, dass um die Ecke ihr Mann Richard käme und winkte, damit sie wenigstens zu zweit in ihrer Sehnsucht nach einer Heimat wären.

Es schüttelt mich bei dem Gedanken, bei dem Gedanken an die Einsamkeit meiner Oma am Ende ihres Lebens, dort wo sie am schlimmsten schmerzt. Ich muss mir eine Jacke anziehen gegen die Kälte, denke mir, dann kann ich auch gleich vor die Tür gehen, den Herbst genießen, wenn es Oma schon nicht mehr kann. Nie wieder werden wir gemeinsam spazieren, ein Gedanke so kalt wie der nahende Winter.

Ich schließe die Wohnung ab, wie ich schon viele Räume abgeschlossen habe in meinem Leben, und gehe hinein in den Stadtpark, durch das Spalier der Kastanien, sie heben die Äste zur Krone, stelle ich mir vor.

30 Mal bin ich umgezogen, das sind 30 verschiedene Hausschlüssel für 14 Städte auf 3 Kontinenten. Manche Schlüssel habe ich noch, manche habe ich verloren, manche weggeschmissen. Alle diese Räume, alle waren sie einmal neu, bis ich mich dort eingerichtet habe oder überstürzt abgereist bin.

Für jemanden mit so vielen Schlüsseln ist Heimat ein merkwürdiges Konzept. Es soll eine Raumorientierung sein, ein Bunker vor der Fremde.

Doch lässt sich nicht in der Fremde am besten die Heimat erkennen? Im Vergleich fällt einem doch vieles leichter. Und wie kann ich von Heimat reden, wenn ich meinen Anker an vielen Stellen im Weltmeer hab fallen lassen? Heimat hat keinen Plural, sagt der Dudendiktator.

Vorbei am Restaurant zu den Drei Teichen. Hier standen einst die Türken vor den Toren der Stadt, fast wäre es geschehen gewesen um die Heimat der Slowenen.

Schnell geht es bergauf, hinein in die Weinberge. Unten meinen Füßen knistern die Kiesel, ich senke meinen Kopf und denke an die Menschen, die auf den Treks während des zweiten Weltkriegs nach Heimat lüsteten, Menschen, die sich nicht fragen mussten, was das wohl sein, Heimat. Die hatten ganz andere Probleme.

Denke ich an Herder, dann ist Heimat ein Ort an dem ich mich nicht erklären muss. Halte ich es aber mit dem Russen Sinawski, dann ist Heimat kein geographischer Begriff. Man trägt sie in sich, schreibt er.

Oben an der Kapelle nehme ich Platz auf den Steinstufen und schaue auf die Stadt, die mir gerade Asyl bietet. Kann man eine Heimat neu gewinnen, so dass ihre Bilder später am Ende des Lebens zuerst auf dem See der Erinnerung schwimmt?

In Maribor bin ich zu kurz dafür, sagt mir meine Erfahrung als Flüchtling, und doch sind fünf Monate eine gute Zeit, um die Menschen lachen und weinen zu sehen, um den Regen zu verfluchen und die Sonne zu lieben, um Wein zu trinken und die Schatten länger werden zu sehen, um den Herbst den Sommer ablösen zu sehen. Nach einem Tag hat man vielleicht einen Geschmack von einer Stadt, aber er bleibt flach und ohne Körper. Ihr Bild entfaltet sich langsam, von Stunde zu Stunde.

Links, im Osten liegt Melje, die ehemalige Heimat von Fabriken und Arbeitern. Geradezu das jüdische Viertel, davor die Anlegestelle der Flößer, die immer nur für kurze Zeit Asyl suchten. Auf der anderen Drauseite sind Chinesen ganz weit weg von ihrer Heimat und irgendwo zwischen dem ganzen Gewühl aus rotdachigen Häusern warten Schwärme von Teenagern auf Startfreigabe, auf der Suche nach einem anderen Klima.

In anderen Zeiten war Heimat ein nüchterner Begriff. Jeder wußte, wo sie war. Dann kam die Industrialisierung, die Verstädterung und mit der Mobilität die Entwurzelung des Menschen, aufgefangen von der Romantik, die erst macht Heimat zur Sehnsucht. Es ist aber auch ein Wort, das so schön über die Zunge fließt: Heimat. Es hört sich gemütlich an, es bringt das Bild einer guten alten Zeit hervor, egal ob sie es tatsächlich war oder nicht.

Die Hügel Sloweniens erinnern mich an den Taunus, dort wo ich herkomme, eine Landschaft deren Geometrie mir immer ein Gefühl von zu Hause gibt, irgendwo tief im Innern, auch wenn der Geruch, der Stadt, der Straße und des Waldes ein anderer ist. Vielleicht fehlt nur hier und dort ein Molekül, doch es ist deutlich genug, um blind verkosten zu können.

Ich blicke nach drüben auf das Pohorje-Gebirge, denke an die Gräber in den dunklen Fichtenwäldern, denke an das Grab meiner Oma, die sich durchkämpfte und Stalin überlebte, damit ich mir hier an dieser Kapelle freie Gedanken machen kann. Was würde sie sagen zu meinen zahlreichen Asylgesuchen, zu meinen Umzügen, zu meiner Unsesshaftigkeit?

Ich weiß es nicht. Aber ich würde ihr sagen: Oma, das ist meine Versicherung gegen das Vergessen. Jeder Umzug schärft die Gedanken und die Sinne und lässt mein Leben in bessere Abschnitte teilen. Ich muss immer wieder neue Räume einrichten, damit ich nicht bequem werde.

Vielleicht würde sie dann sagen: So wirst du dich nie zu Hause fühlen.
Könnte sein, würde ich zugeben. Vielleicht aber, vielleicht gibt es doch einen Plural.

*Text aus der Lesung in Ljubljana